16
Mai
2021

Von der Schönheit einer Signatur.

Es liegt wohl daran, dass ich 10 Tage in Schlieren stationiert bin und meinem 90-jährigen Vater zur Seite stehe während der Ferien meines Bruders, der sonst diese Rolle übernimmt. Ich beobachte. Was ändert sich, was bleibt gleich mit 90. Der Alltag ist konstant, fast langweilig und doch kann ich mich – einmal mehr – nicht entziehen, zu erkennen, dass mein Vater eine ungeheure Stärke aus seinem Lebenssystem zieht, die einfach bewundernswert ist. Es ist nicht nur seine Disziplin, sondern vielmehr die Verbindung von dem, was er ist, und dem was er tut, um zu bleiben, was er ist, das eine so imponierende Einheit bildet.

Natürlich ist er alt und mein Bruder und ich schauen, dass er seine Lieblingsconfi hat von der Migros und sein Laib Brot vom Coop, 1 Kilo Halbweiss, wie immer. Den Rest kann er noch selber. Ich chauffiere ihn zu Arztterminen und zur Podologin, koche im Winter Kürbisrisotto und im Sommer Zucchinireis, und gehe mit ihm spazieren, jetzt mit Maske, und immer ganz vorsichtig, weil die Schüler auf den Trottis ohne viel Rücksicht an ihm vorbeiflitzen. Doch der Stil, wie er alles anpackt, sein Wille, sein Pakt mit Gott, das hat sich seit ich beobachten kann, nicht geändert. Mir kommt dazu das Wort Signatur in den Sinn. Es hat etwas mit seiner Unterschrift zu tun. Er unterschreibt sein Leben jeden Tag.

Ist das Erkennen der Signatur eines Menschen sein Erfolgsrezept?

Die Signatur meines Vaters zu erkennen ist nach 90 Jahren nicht schwer, sie liegt klar auf der Hand. Wer 35 Jahre lang im Akkord Metallblätter millimetergenau gefalzt und kein einziges Stück davon falsch geformt hat, muss eine stählerne Faust als Signatur haben. Als ich ein Kind war arbeitete mein Papa als Abkanter in der Wagonsfabrik in Schlieren und hatte seinen Platz in seinem Leben und an der Seite meiner Mutter gefunden. 14 Stunden am Tag waren der Arbeit gewidmet, vom Aufstehen um halb fünf und der Nassrasur bis zum warmen Abendessen nach der abendlichen Busfahrt von Schwamendingen war alles ganz präzis eingeteilt. Einerseits hatte er schon immer einen Kontrollfimmel und wollte, wenn es ging, rein gar nichts dem Zufall überlassen. Nur manchmal in den Ferien liess er sich verführen zum Pflücken eines Pfirsichs, einfach so. Aber seine Signatur nötigt anderen Menschen genauso viel Perfektion ab. Seine Stärke ist wie ein Sog und normalerweise händigte ihm der Obsthändler ein Kilo der schönsten Früchte automatisch aus.

Heute hat er einfachere und schwerere Tage und doch ist die Signatur meines Vaters die gleiche geblieben: Mit stählernem Willen gestaltet er seinen Alltag bis ins Detail immer genau gleich. Er sagt: „Der Körper sagt mir, was er braucht und ich gebe es ihm. Ich habe mich gefügt.“ Schon vor Jahren hat er auf das tägliche Glas Rotwein verzichtet, er isst genau vier Mahlzeiten am Tag und trinkt vor dem Zubettgehen noch einen Fencheltee. Wenn er von früher erzählt, gilt seine Sicht den immer gleichen, gut endenden Geschichten: Zufällige Begegnungen, die sich in langlebige Symbole verwandelt haben. Die nette Familie Hunziker, die in Schwamendingen beim Vermieter einer Einzimmerwohnung für ihn gebürgt hat. Wie es war nach der Ausbildung als Rekrut als einziger Napoletaner mit Auszeichnung ins Piemont geschickt zu werden, um eine Spezialisierung zu machen. Er zwingt auch seiner Vergangenheit seinen Stempel auf. Er könnte auch klagen, über Hunger, Krankheit und Krisen, aber das würde er nie tun. Er hält sein positives Narrativ mit beiden Händen fest.

Mein Vater ist unbeugsam hart und das hat ihn oft in schlimme Situationen gebracht. Das bettelarme Süditalien ist kein Pflaster für Menschen mit Rückgrat eher eines für Leute mit Gewaltbereitschaft. Das heisst, seine Signatur hat ihm in jenem Ambiente nicht geholfen, sich zu verwirklichen und darum ist er mit 30 ausgewandert: Die Schweiz war genau das richtige Ambiente für seine strenge Lebensphilosophie und hier hat er sich verwirklicht. Seine Bewunderung für den Bau der Limmattalbahn ist grösser als die für die sixtinische Kapelle, weil die Schweizer ihr Kunsthandwerk zum Nutzen aller einsetzen, sagt er.

Meine Signatur vs. seine Signatur

Ich hatte als Jugendliche nur meine ganz grosse Liebe zu ihm, die mich davon abhielt, ihn im Schlaf mit einem Kissen zu ersticken. Ich habe Jahre mit ihm diskutiert. Mit ihm konnte man nach einem Abend, einem Tag, einer Woche zu einer intellektuellen Übereinstimmung kommen, aber er rückte trotzdem nicht von seinem Standpunkt ab, keinen einzigen Hundertstel Millimeter. So war er halt. Ich bin wegen ihm eine professionelle Kreative geworden und nicht eine freie Autorin. Ich habe tausend Ideen im Köcher und konkretisiere sie aber am besten mit einem stahlharten Auftrag. Mein Leben ist der Schöpferkraft mit einem Businessplan gewidmet. Meine Signatur ist, eine Schwelle zu sein. Ich lebe an diesem Übergangsort, weder Fisch noch Vogel, auf der einen Seite dunkle Nacht und Tausend Träume, auf der anderen Seite das erste Morgenlicht und der ungezügelte Wille, aufzustehen und anzupacken. Schreibblockaden waren nie mein Problem. Sobald das Ziel geklärt ist, texte ich los. Mit 58 bin ich mittlerweile eine anerkannte Hüterin der Schwelle. Noch nie habe ich eine Deadline verpasst. Ich habe gelernt, Ideen nicht ungeprüft durchzulassen und nach einem Quid pro Quo zu verlangen. Seit 2004 gebe ich auch anderen die Hand, um ihre ureigensten Inspirationen Realität werden zu lassen, als Schrebcoach und als Dozentin.

Natürlich ist es traurig, dass so viele meiner Träume, solche bleiben. Doch haben sie auch im Schattenreich ein Leben und eine ungemein kraftvolle Energie. Und hier treffen wir uns, mein Vater und ich. Wir wissen, was alles mächtig nach vorne drängt, Träume und alternative Entwürfe, doch wir wollen dem einen, das gelingen soll, die grösstmögliche Liebe und Aufmerksamkeit geben.

Damit wir dieses Leben mit Stolz signieren und quittieren können. Irgendwann endgültig, an einem hoffentlich weit entfernten Tag.

 

 

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