8
Apr
2019

Überlebenskurs für Über-Mütter.

Spolier Alert: Stricken, Schmuck basteln, Schrebergärtnern und kreatives Schreiben können Angstattacken heilen.

Ich dachte immer, ich sei eine gute Mutter. Aber das bin ich nicht. Ich dachte immer, meine Mutter sei eine schlechte Mutter. Aber das war sie nicht. Wir waren einfach Angst gesteuerte Über-Mütter. Und gingen kreativ mit einer Krankheit um, die niemand diagnostizieren konnte, weil wir uns nicht genug beklagt haben.

Gott sei Dank.

Angst und Panik sind Gefühle, die unser Überlebensdrang in der Steinzeit dringend brauchte. Bis circa vorgestern, als Penizillin, Krankenkassen und das Frauenstimmrecht für alle erreichbar wurden. Damit wurden Angst und Panik obsolet, aber niemand hat es ihnen ausgerichtet. Angstattacken kann man chemisch-pharmazeutisch aus der Welt schaffen. Ein Cocktail aus Pillen und eine gewisse Demut den Nebeneffekten gegenüber und ZACK! schon ist man wieder ein funktionierender Mensch.

Aber Angst ist a priori nichts Schlechtes. Sie kann zu ungeheuren Leistungen anspornen. Angst blockiert zwar jedes andere Gefühl, ist aber auch ein grosser Antrieb, um Perfektion zu erreichen. Wo besser als in der Schweiz kann man Angstattacken haben und Erfolge damit feiern? Während meine Ma vor lauter Angst die beste Putzfrau der Welt wurde, hatte sie mit der Angst um mich ihre echte Not.

Sie wurde eine kontrollierende Über-Mutter, denn alles an dieser fremd gesteuerten Tochter provozierte Angstattacken und machte sie aggressiv. Bücher lesen, Deutsch sprechen, gute Noten machen, ins Gymi gehen, Buben küssen, in die Disco wollen, rauchen, als Werbetexterin einen Job suchen und ein WG-Zimmer mieten: All das machte ihr Angst, blockierte ihre Gefühle für mich und entfremdete uns.

Als ich endlich ausgezogen war und meine Freiheit geniessen wollte, passierte das Paradoxe: Ich selbst bekam Angstattacken. Und ich, die wortgewandte Texterin, fand keine Sprache, um das jemandem zu erzählen. Ich kaufte mir das Buch „Grundformen der Angst“, in dem hübsch aufgeschrieben ist, was für Typologien möglich sind, aber es machte mir einfach nicht genug Angst vor meiner Angst.

Gott sei Dank.

Denn da ich Angst hatte und nicht allein sein wollte, suchte ich mir einen Freund, den ich liebte und wir machten bald darauf ein Baby. (Nein, keine Spur von Angst in dieser Angelegenheit). Es fühlte sich alles richtig an. Bis mein Bub mit drei Monaten angefangen hat, richtig hohes Fieber zu haben. Immer wieder bis er sechs Jahre alt war. Die Angst in der Nacht zu warten bis es Mitternacht wurde und die Zahl auf dem Thermometer 41 zeigte, um dann das letzte Fieberzäpfchen zu geben, war unbeschreiblich. Ich konnte es meinem Freund nicht erzählen, blockierte meine Gefühle und baute um meine Angst herum, mein eigenes Über-Mutter-sein.

Fast parallel dazu passierte aber etwas wunderbares: Meine Mutter schmolz dahin für diesen kleinen Enkel, den sie liebte bis ins letzte Löckchen. Meine distanzierte Über-Mutter wurde zur warmherzigen, kichernden und glücklichen Grossmutter und ich freute mich für sie. Es gab also Hoffnung.

Meine eigenen Angstattacken sah ich aber immer noch nicht. Sie setzten mich nach der Trennung von meinem Freund erst recht tüchtig unter Druck. Innert drei Monaten hatte ich einen Job in einer Agentur, ein Au-Pair Mädchen aus Schweden, meine Eltern und meine Nachbarn so perfekt organisiert, als hätte ich es schon immer darauf angelegt, alleinerziehend zu sein. Angst ist ein mächtiger Motor. Mein Leben fühlte sich gut an und ich hatte zu viele Erfolgserlebnisse, um mich mit mir selbst und meinen Schattenseiten auseinanderzusetzen. Bis die Pubertät meines Sohnes kam.

Spoiler Alert: Angstattacken sind besser als jeder Horrorfilm. Sie radieren deine Identität aus.

Die Schluchten, in die ich gefallen bin in den Nächten, in denen mein Sohn nicht nach Hause kam wie besprochen und wegen weiterer Grenzerfahrungen, die er machen wollte, bleiben einmal mehr ohne Worte. Aber daran war nicht er schuld, diesen tiefen Abgrund habe ich selber gegraben. In all den Jahren, in denen ich auch mal hätte weinen, verzweifeln und aufgeben können, hat mich meine Angst zur Kontrolle weiter und immer wieder zu neuen Ideen getrieben, wie ich meine Zuversicht wieder reparieren konnte.

Gott sei Dank.

Doch die Rechnung kommt immer irgendwann. Meine kam im November 2009. Der schwärzeste Angstmoment kam wie ein Vorhang, der plötzlich fällt. Er hat mich mit einer Leere hinter den Kulissen meiner selbst konfrontiert, die mich dann endlich zu meiner Ärztin geführt hat. Lustigerweise hat sie aber keine grossen klinischen Worte gemacht, sondern sie hat ein Problem nach dem anderen gelöst mit mir: Sie hat mich gegen Stress akupunktiert, mich unterstützt, das Rauchen aufzugeben und angeregt, Johanniskraut auszuprobieren.

Das Nichts, das ich fühlte, ging nicht weg, doch ich hatte endlich die Stärke, es nicht aufzufüllen mit schönen Platzhaltern, wie Beziehungen, Ferien, Büchern, Filmen, Essen und Trinken. Ich hatte den Mut, allein mit mir zu sein.

Spoiler Alert: Kreatives Schreiben, Schals stricken, Kerzen giessen, kreatives Schreiben, Schmuckketten auffädeln, Hagebutten einkochen, den Schrebergarten bearbeiten und kreatives Schreiben helfen, allein zu sein und langsam aus der Angst raus zu kommen.

Ich bin nicht der Typ, der sagt, seht her, ich habe meine karmische Schicksalsaufgabe summa cum laude gemeistert und das Erfolgsrezept gibt’s bei mir in Workshops, Büchern und Klassenlagern in der Jurte zu kaufen. Nein, dafür habe ich zu grosse Angst, dass ich meinen inneren Seelenfrieden wieder verlieren könnte. Was ich sagen kann ist, dass ich meiner Ma in ihrer schweren Krankheit helfen konnte, in dem ich ihre jedes Jahr ein Tagebuch geschenkt habe, damit sie aufschreiben konnte, was sie beschäftigte. Sie hat nicht direkt gegen ihre Angst angeschrieben, sie hat über die alltäglichen Probleme geschrieben, jene, die sie meistern konnte und über den Kontrollverlust.
Ich habe ein paar Seiten ihrer Tagebücher gelesen und habe mich getröstet gefühlt, dass ich ihr das schenken konnte. Manchmal spürte ich ihre Angst zwischen den Zeilen. Dass dieser Gegner etwas aus ihr machen könnte, dass sie einfach nicht zulassen wollte. Doch dies ist nicht passiert.

Gott sei Dank.

Leave a Reply